40 Jahre RÄTSCHE
2018 feierte die RÄTSCHE das 40-jährige Jubiläum ihrer Vereinsgründung.
Ein schöner Anlass, einen Blick auf die Geschichte zu werfen.
Die Stunde Null
Die Geschichte der RÄTSCHE beginnt Mitte der 1970er Jahre mit dem „Arbeitskreis Kultur“, der in unregelmäßigen Abständen Konzerte in unterschiedlichen Lokalitäten in Geislingen veranstaltete. Schon bald entstand bei den „Machern“ der Wunsch nach einem eigenen Haus, in dem regelmäßig Kulturveranstaltungen stattfinden konnten. Die geeigneten Räumlichkeiten fanden sich in der Seemühle, im Volksmund Rätschenmühle genannt.
1978 wurde der Rätschenmühle e.V. Geislingen gegründet und in den folgenden 20 Monaten, von den damals rund 70 Mitgliedern in vielen ehrenamtlichen Stunden, aus der stillgelegten Mühle ein uriger Veranstaltungsraum gestaltet. Da dieses Projekt anfangs als recht unsicher und mitunter sogar suspekt betrachtet wurde, gab es die nötigen Bankdarlehen nur gegen gut abgesicherte Bürgschaften einiger Mitglieder. Im Juli 1980 war es dennoch soweit – das Ziel war erreicht – Geislingen hatte die „RÄTSCHE“.
Die 80er Jahre
Anfänglich traten in der RÄTSCHE meist regionale, bis dato noch unbekannte Künstler auf. Schon bald jedoch gaben Künstler aus allen Teilen der Welt ihr RÄTSCHE-Debut. Folk, vornehmlich aus Irland und Schottland, war angesagt. Namhafte Künstler wie Andy Irvine, Dick Gaughan oder auch die Sands Family waren die Knüller in der „Mühle“. Auch Künstler aus dem Ländle wie Zupfgeigenhansel und Grachmusikoff waren stets Garanten für ein volles Haus.
Aus der Rock-Szene gastierten im Schnitt drei Bands pro Monat. Schon damals war Werner Dannemann regelmäßig mit dabei, und auch die in der Alternativszene sehr erfolgreichen Cochise und Ape, Beck und Brinkmann seien hier genannt.
Ein Coup gelang den Veranstaltern 1982 mit Verpflichtung der Band „1. Allgemeine Verunsicherung“, damals noch ein Geheimtipp, wenig später als „EAV“ landesweit in aller Ohren. Weitere, später recht bekannte Namen, die in der RÄTSCHE gastierten, waren u.a. Ottfried Fischer, Sissy Perlinger, Eisi Gulp und Horst Schroth.
Auch die politische Diskussion über Themen wie Weltfrieden, Volkszählung, Anti-AKW und Umweltschutz fanden in der RÄTSCHE ihren Platz. Ein besonderes Ereignis war die von der Friedensbewegung organisierte Menschenkette, welche im Oktober 1983 direkt an der RÄTSCHE vorbeiführte. Im selben Jahr kam der damalige Verteidigungsminister Manfred Wörner in die „Höhle des Löwen“ und diskutierte mit den RÄTSCHE-Besuchern über Abrüstung und den Nato-Doppelbeschluss.
An veranstaltungsfreien Tagen wurde die RÄTSCHE-Bühne für Proben von Musik- und Kabarettgruppen genutzt. Stellvertretend für viele sei hier die Gruppe „Sack und Asche“ in Erinnerung gebracht. Bei Jubilees, Festen und später bei den Geislinger „Stunksitzungen“ standen viele der Organisatoren selbst auf der Bühne, um sich musikalisch oder in Sketchen bis hin zu abendfüllenden Theaterstücken zu präsentieren.
Innovativ wie die Veranstalter stets waren und sind, nahmen sie neue, interessante Strömungen in der Kulturszene immer offen auf. Bereits 1987 erlebte Geislingen mit „Nikki Sudden & The Jacobites“ das erste Indie-Konzert. Mit „Indie“ konnten Künstler ihre Musik völlig unabhängig – independent – von kommerziellen Belangen der Plattenlabels veröffentlichen. Ende der Achtziger war die RÄTSCHE einer der ganz wenigen Clubs in Süddeutschland, der Indie-Konzerte veranstaltete. Auf den Tourneeplakaten von vielen „große Namen“ war zwischen Berlin, Hamburg, Frankfurt, München etc. auch Geislingen zu lesen; im Szeneblatt SPEX war die RÄTSCHE regelmäßig präsent und wurde so für Indie-Fans zum Geheimtipp. Zu den Konzerten der Walkabouts, The Go Betweens, Bongwater, Giant Sand und vielen anderen, reiste das Publikum aus ganz Süddeutschland an.
Die 90er Jahre
Zu Beginn der 90er Jahre entwickelte sich die RÄTSCHE zum angesagtesten Kabarett-Tempel weit und breit. Alles, was inzwischen Rang und Namen in der Kabarettszene hatte, stand auf der RÄTSCHE-Bühne: Arnulf Rating, Georg Schramm, Dieter Nuhr, Andreas Giebel, Frank Lüdecke, die Missfits sowie der viel zu früh verstorbene Matthias Beltz mit dem Frankfurter Fronttheater und mit mehreren seiner Solo-Programme.
Mitte der Neunziger bot der Leerstand des ehemaligen Schlachthofes in Geislingen die Chance, sich räumlich zu vergrößern und die Idee für einen Umzug in neue Räume nahm schnell Gestalt an. Im Dezember 1995 stimmte der Gemeinderat dem Projekt zu und so wurde der Schlachthof 1996-1998 in unzähligen freiwilligen Arbeitsstunden zum heutigen Kulturzentrum RÄTSCHE umgebaut. Nach über einem Jahr „Kultur-Entzug“ konnte man es kaum erwarten, als im Oktober 1998 die offizielle Eröffnung der RÄTSCHE im Schlachthof stattfand.
Viele haben anfangs den urigen Charme ihrer alten RÄTSCHE vermisst – professionelleres Arbeiten, die damit verbundene deutlich bessere Performance und vor allem mehr als doppelt so viel Platz haben jedoch schnell überzeugt und waren und sind ein enormer Gewinn für die Künstler, Besucher und RÄTSCHE-Macher.
Die neuen Räume regten auch neue Programmpunkte an und so entstanden Veranstaltungsreihen wie das bis heute erfolgreiche und beliebte KlangFrühStück (vormals Jazz & Breakfast) und der monatliche Talk-Abend „Das Rote Sofa“. Auf ihm nahmen an 99 Talk-Abenden neben der Moderatorin Dr. Marlies Prinzing viele Persönlichkeiten aus Kultur, Politik, Sport und Wissenschaft Platz: Ruth Maria Kubitschek, Manfred Rommel, Lothar Späth, Gregor Gysi, Dieter Hildebrandt, Marcia Haydée und weitere 94. Mit der fast immer ausverkauften Veranstaltung, erschloss sich der RÄTSCHE ein bislang völlig neuer Besucherkreis. Viele der annähernd insgesamt 20.000 Besucher*innen reisten von weit her an und manche sicherten sich dort schon ihren Stammplatz.
Die 2000er bis Heute
2002 vergrößerte sich die RÄTSCHE mit einer weiteren Attraktion. Auf dem über die Jahre völlig verwucherten Gelände hinter dem Schlachthof entstand der RätscheGarten. Seitdem werden von Mai bis September in dem gemütlichen Biergarten Open Air Veranstaltungen angeboten. Feste Bestandteile sind der Kunsthandwerkermarkt, ein internationales Festival und Kinderprogramme. Garantiert vollbesetzt und stimmungsgeladen ist der RätscheGarten bei den beliebten Public Viewings anlässlich der Fußball-EM und WM.
Insgesamt waren die 2000er in der RÄTSCHE durch den Wunsch geprägt, Kultur verstärkt selbst zu gestalten:
• Den Anfang machte KäSch, die RÄTSCHE-Theatergruppe. Die Mitglieder begannen mit selbstentwickelten Stücken und wechselten dann auf das angesagte, jedoch auch sehr anspruchsvolle Impro-Theater. Viele tolle Matches mit anderen Impro-Theatergruppen erfreuen seither das RÄTSCHE-Publikum. Seit etwa 2010 organisiert KäSch zwei- bis dreimal pro Jahr ein ImproOpen, bei dem alle mitspielen können, die sich trauen.
• Kurz nach der Jahrtausendwende wurde damit begonnen, monatliche Discos zu veranstalten. Das Konzept Discos mit freiem Eintritt sorgt regelmäßig für ein proppenvolles Haus.
• 2007 feierte das erste von der RÄTSCHE produzierte Musical „Hair“ Premiere – Hair wurde 22 mal vor ausverkauftem Haus gespielt – ein gigantischer Erfolg, mit dem die RÄTSCHE einen erweiterten Publikumskreis erschließen konnte. Für die Choreographie und Inszenierung konnte Torsten Moll, Leiter der Musical- und Ballettschule „New Stage Company“ gewonnen werden.
Es folgten die Musicals „Der kleine Horrorladen“ und „Miami Nights“, ebenfalls tolle Publikumserfolge. Alle Musicalproduktionen wurden live von Musikern der Geislinger Musikschule, unter der musikalischen Leitung von Fritsch Kienle, begleitet.
Als vierte Produktion startete im November 2012 das Broadway-Musical „Cabaret“, das in den Siebzigern mit Liza Minelli verfilmt wurde.
• Ebenfalls 2007 formierte sich der RÄTSCHE-Chor, anfangs geleitet von Torsten Moll, 2010 bis 2022 von Martina Bach und nun von Martin Rosengarten. Die zur Zeit rund 35 Sängerinnen und Sänger proben einmal pro Woche und hatten schon viele gelungene Auftritte.
• Seit ca. 2008 wird die Reihe JazzOpen veranstaltet, bei der Musiker eingeladen sind mit einer festen Rhythmusgruppe zu jammen. Die JazzOpen-Sessions finden im Foyer statt, das sich im Sommer 2009 endlich aus einem Provisorium zu einem schönen und einladenden Raum gemausert hat. Eine professionell eingerichtete Theke erleichtert dabei den ehrenamtlichen „Thekendienstlern“ die Bewirtung der Gäste.
Natürlich kamen und kommen trotz aller Angebote, selbst die Bretter, die die Welt bedeuten, zu betreten, alle sonstigen Veranstaltungen nicht zu kurz:
• Das monatliche Kabarett bildet das Gerüst der Veranstaltungsplanung. Viele der mittlerweile berühmt gewordenen Künstler wie Georg Schramm, Hagen Rether, Luise Kinseher oder Michael Altinger, die inzwischen große Hallen füllen, kommen immer wieder gerne in die RÄTSCHE. Neben politischen Themen werden im Kabarett auch immer öfter gesellschaftliche Themen aufgegriffen und so finden auch die Vertreter der angesagten Sparte „Comedy“ ihren festen Platz im Programm.
• Im Bereich Theater werden immer wieder herausragende Theaterproduktionen eingeladen. So gastieren z.B. das Theater Lindenhof Melchingen, kleinere Produktionen des Schauspiels Stuttgart und der Württembergischen Landesbühnen. Neue, spannende Stücke, wie z.B. „Verrücktes Blut“, in der Aufführung des Theaters Radix Freiburg im Mai 2012, finden in der RÄTSCHE immer ein interessiertes Publikum.
• Nachdem Ende der 1990er Jahre der Folk etwas aus der Mode gekommen war, boomte in den letzten Jahren der Irish Folk mit fetzigen New Folk-Gruppen wie Beoga, Grada oder Caladh Nua. Mitreißende Konzerte gab es unter anderem mit ungarischen, iranischen, türkischen, italienischen und spanischen Künstlern sowie im Weltmusikbereich mit den schon traditionellen Klangwelten.
Ein Event im Jahr bringt die RÄTSCHE immer an den Rand ihres Fassungsvermögens: Seit Mitte der 1980er Jahre spielt an jedem 23. Dezember Werner Dannemann & Friends und läutet damit die Weihnachtszeit in Geislingen ein.
In den letzten Jahren haben sich zudem viele interessante und spannungsreiche Veranstaltungen in Kooperation mit unterschiedlichen Partnern aus Geislingen und Umgebung ergeben – zu nennen sind hier die IG Metall, die NaturFreunde, das Haus der Familie, der Stadtjugendring, die Musikschule, der Integrationsrat Geislingen, die Kirchen, das Gloria Kino Center und verschiedene Vereine.
Rückblick und Ausblick
Über 40 Jahre ehrenamtlich geleistete Kulturarbeit der RÄTSCHE in Geislingen mit Programmen, die durchaus großstadtfähig wären – darauf sind die RÄTSCHE-Macher*innen stolz. Was mit so vielen Stolpersteinen begonnen hat, ist längst zu einer Institution geworden und aus den Stolpersteinen der Anfangszeit sind Steinchen geworden. Oft plagen noch Geldsorgen und mehr als eine halbe finanzierbare Stelle wäre ein Traum – aber letztendlich sind es die Mitglieder, die zusammenhalten und die vielen Gäste, die zu den Veranstaltungen kommen, die der RÄTSCHE immer wieder dabei helfen zu überleben.
Galt die RÄTSCHE in den Anfangsjahren noch für viele als suspekt, gar konspirativ, so ist es heute ein breites Publikum, das die RÄTSCHE und ihr abwechslungsreiches Programm schätzt. Hochkarätige Veranstaltungen wie das Rote Sofa mit prominenten Gästen und Auftritte von aus dem Fernsehen bekannten Kabarettist*innen haben viel dazu beigetragen, unterschiedlichste Menschen in die RÄTSCHE zu locken und – wie von Zauberhand hat sich die „Höhle des Löwen“ dann doch als recht gemütliches und unterhaltsames Örtchen entpuppt.
40 Jahre RÄTSCHE, das sind in Zahlen rund 3.000 kulturelle Veranstaltungen mit über 300.000 Besucher*innen. Die ehrenamtliche Arbeit in allen Bereichen der RÄTSCHE beläuft sich in diesem Zeitraum auf 300.000 Stunden. Und hinter jeder Stunde stehen Menschen, die Freude an der ehrenamtlichen Arbeit haben und sich unermüdlich einsetzen.
Ob in der Künstleraquise, in Vertragsverhandlungen, in der Veranstaltungstechnik, im Werbe- und Grafikbereich, im Kassen-, Theken- und Küchendienst, mit Putz- und Reparaturarbeiten, in der Gartenpflege, in Ausschüssen und Planungsteams, im Kulissenbau und in der Kulturwerkstatt, – jede/r Einzelne ist ein Puzzlestück, das die RÄTSCHE erfolgreich am Laufen hält.
Und genau so soll es weitergehen:
Vorhang auf für die Zukunft! Auf dass wir weiter in den Tourneeplänen von Künstler*innen lesen: Auftritt in Berlin, Hamburg, Leipzig, Köln und Geislingen …